SCH.NEE – Nunzio Impellizzeri
Kulturmarkt, Zürich, 29. Oktober 2022
Tanz: Federica Aventaggiato, Lionel Ah-Sou, Claudio Costantino, Clémentine Dumas, Loar Labat Berrio, Katharina Ludwig
Aufführungsimpression Tanznachtisch der TanzLOBBY IG Tanz Zürich
Text: Mary Staub
(English version below)
Tanzinteressierte bilden eine lockere Schlange im Foyer des Kulturmarktes, während sie auf den Einlass zu Nunzio Impellizzeri’s 60-minütigem Stück "Sch.nee" warten. Bloss sechs Personen aufs Mal dürfen in den Theaterraum übertreten. Der Rest hält inne. Einmal durch die Tür geschritten, hält ein schwarzer Vorhang die Teilnehmenden erneut kurz auf, bis eine Tänzerin das Gewebe sachte zur Seite zieht, und die Zuschauer*innen über die Bühne und zu ihren Plätzen führt. Beim Überqueren der Bühne stoßen sie auf mehrere Tänzer*innen, die sich auf der Bühne und zwischen den Zuschauerplätzen dehnen, leicht aufwärmen, sanft Posen einnehmen. Das Publikum schaut zu, wie die nächste Gruppe von sechs Tanzerinteressierten den Raum betreten, die Bühne überqueren und ihre Plätze einnehmen. Und nochmals sechs, und nochmals sechs. Das Publikum sieht zu, wie sechs Tänzer*innen im Bühnenraum sich weiter leicht bewegen, strecken, posieren. Manchmal fordert ein/e Tänzer*in eine/n Zuschauer*in zur Partnerarbeit auf, eine einfache Dehnungs- oder Bewegungssequenz. Die Trennung zwischen Tänzer*innen und Zuschauer*innen wird so verringert. Der Raum und die Zeit—der Übergang—von der Außenwelt zur Aufführungswelt wird derweil ausgedehnt, bis alle Zuschauenden sitzen und die eine Welt fliessend in die andere übergeht.
In "Sch.nee" erkundet der in Italien geborene und in Zürich lebende Nunzio Impellizzeri die Rolle von Lärm und Stille in unserer zunehmend hyperstimulierten Gesellschaft. Was ist Stille in diesem Kontext? (Wie) existiert Stille? (Wie) können wir mit Stille umgehen? Welche Rolle spielt die Stille in einer Gesellschaft, in der diejenigen, die am lautesten schreien, am weitesten kommen? Wenn der Lärm weg fällt, was füllt dann den Raum?
Als das Licht angeht, sitzen drei Tänzerinnen und drei Tänzer in einer Reihe, von der Bühne aus dem Publikum zugewandt, und halten die Blicke des Publikums fest. Langsam stehen die Tänzer*innen auf, behalten den Blickkontakt zuerst noch bei, während sie sich weiter in den Raum begeben. Die Brücke von Publikum zu Tanzenden wird dabei stärker. Sie tragen leuchtende, zweifarbige Basics: Shorts, T-Shirts, Hotpants, Trikots—leuchtendes Rot mit strahlendem Türkis; heißes Pink mit glänzendem Grün; kräftiges Orange mit glühendem Gelb. In diesen feurigen Zweifarben schreiten, ziehen, posieren und schneiden die Tänzer*innen exakte, bewegte Formen, mal allein, mal paarweise, mal als einheitliches Sextett. Breite Ausfallschritte werden breiter. Sie tauchen und drehen sich in tiefen Arabesken. In Barrel Turns attackieren sie den Raum mit fesselnder Präzision. Diese Bilder werden untermalt von einer crescendierenden elektronischen, perkussiven Klanglandschaft. Aus einem sanften Ton entwickelt sich ein leicht pulsierender, zunehmend rhythmischer, pochender elektronischer Sound, der die Tänzer*innen durchdringt. Sie schlagen, stampfen, springen. Sie pulsieren den Beat der Musik, der Beat pulsiert sie, treibt ihre Körper an, lässt ihre Körper aufeinanderprallen. Alles steigert sich—der Klang, die Geschwindigkeit, der Rhythmus, die Kostümfarben. Viele im Publikum nehmen den Beat auf, spiegeln den Puls der Tänzer, das Dröhnen der Musik, den Rhythmus der Körper auf der Bühne.
Plötzlich herrscht Stille.
Und in dieser Stille hören wir wie die Körper atmen. Und in dieser Ruhe sehen und spüren wir deutlicher, wie die Körper sich bewegten.
Und plötzlich herrscht Dunkelheit. Und in dieser Abwesenheit von Licht und Lärm wird deutlich, wie laut die Farben schrien, wie intensiv die Musik pochte, wie präzise die Körper auf der Bühne Formen, Skulpturen und Bewegung in den Raum schnitzten.
In "Sch.nee" bilden solche ausgedehnte Blackouts durchlässige Unterteilungen zwischen den einzelnen Abschnitten des Stückes. Jeder Abschnitt ruft eine eigene Welt ins Leben, und diese fliesst ins Blackout hinüber. In der Stille des Blackouts wird das vorher kreierte noch deutlicher gehört, gesehen, gespürt. Diese dunklen, stillen Zwischenräume laden zum Reflektieren ein.
Ein Abschnitt von "Sch.nee" erinnert an eine Unterwasserwelt. Eine Figur gleitet dem Boden entlang, an eine Meeresschnecke erinnernd, mit einem hell erleuchteten Auge am Kopfende—ein surreales Bild, welches eine bezaubernde Atmosphäre entstehen lässt. (Ein Tänzer, der eine Tauchermaske trägt, die von innen leise beleuchtet ist.) In dieser Unterwasseratmosphäre, werden die Bewegungen der Tanzenden flüssiger, die Klangfarben gedämpfter, die Farben weniger schrill. Die Tänzer*innen tragen meist nacktfarbene, netzhafte Bekleidung, bewegen sich sanft wogend, die Konturen von Klang, Bewegung, Licht und Farbe sind weich. Manchmal klaffen die Münder fischartig auf, als ob Luftblasen atmend oder lautlos sprechend.
Hin und wieder in "Sch.nee" halten die Tänzer*innen inne, fixieren den Blick ins Publikum, laden dieses weiter in ihre Welt ein. Mit den Zeigefingern umrahmen sie die eigenen Nasen- und Mundwinkel—eine zarte Geste. Ein leises "ssssshhhh" ertönt. Der Titel "Sch.nee" setzt sich aus dem verstummenden Geräusch des "ssssshhhh" und dem stummen Element "Schnee" und einem verneinenden "nee" zusammen.
Im letzten Abschnitt erscheinen die Tänzer*innen überwiegend in Weiß, die voreinst grellen Farben verschwunden (verschneit?). Ihre Bewegungen sind gewichtet und zugleich leicht, als ob sie sich durch Schneewehen winden. Der Ton ist meditativ, hypnotisierend, als ob auch der Ton vom Schnee absorbiert wird. Plötzlich halten die Tänzer*innen eine weiße Kugel, an einen Schneeball erinnernd, im Mund, der Übergang fast unbemerkbar. Ein beunruhigendes Bild: Geknebelt zum Schweigen gebracht. Jedoch: Der Blick der Tänzer*innen verbleibt weich, sanft, vereint mit dieser Stille. Unmerklich verschmelzen sie zu kollektiven Skulpturen, die einzelnen Körper ineinander verflochten, bevor sie wieder zerfliessen um anderswo zu einer neuen Figur sich zu vereinen. Eine Tänzerin wird hochgehoben und getragen und gehalten, sanft geschaukelt und in Kreuzespose getaumelt. Der Fluss der Skulpturen hält das Publikum in einem meditativen Bann.
Im Anschluss an "Sch.nee" teilte eine kleine Gruppe von Zuschauern beim Tanznachtisch ihre Eindrücke aus dem Stück mit, während Nunzio Impellizzeri und Manfred Dachs zunächst zuhörten und am Ende Fragen aus dem Publikum beantworteten. Was das Publikum stark ansprach, waren die gegensätzlichen Qualitäten von Klang, Bewegung, Kostümen, Beleuchtung und Gesamtwelten, die in verschiedenen Abschnitten geschaffen wurden. Diese gegensätzlichen Welten bildeten ein Ganzes, wie auch Lärm und Stille zwar gegensätzlich, aber vereint sind. Auch unzählige skulpturale Bilder hinterließen starke Eindrücke—Tänzer*innen mit von Bällen gestopften Mündern; klaffende, fischähnliche Mäuler; Unterwasserwesen; leuchtende Farben; grelle Farben; unheimliches Licht; der Blick der Tänzer; das verstummende "sssshhhhhh". Das Publikum empfing diese Bewegungsbilder offen, ein Geschenk, welches die Tänzer*innen in "Sch.nee" ins Leben erweckten.
Der Übergang von Aussenwelt zur Theaterwelt wurde ähnlich offen empfangen—die anfängliche Nähe zwischen Publikum und Tanzenden ermöglichte den Zuschauenden noch intensiver selbst einen Teil der erschaffenen Gesamtwelten zu werden. Das Publikum erlebte die Verbindung zu den einzelnen Tänzern, und folgte körperlich und emotional zeitweise einer einzelnen Figur. Gleichzeitig genossen sie die Welten, die durch das Zusammenfließen von Klang, Licht, Farben und dem Kollektiv der Tänzer*innen entstanden. Das Publikum nahm die Erfahrungen, Bilder und Welten, die diese Tänzer*innen in den 60 Minuten so eindringlich verkörperten, dankbar auf—unzählige Geschenke, die es mit nach Hause nehmen konnte.
Ein Geschenk, welches in der Stille unserer Häuser uns weiter bescheren wird.
SCH.NEE
Künstlerische Leitung, Konzept und Choreografie Nunzio Impellizzeri
Originalmusik Tarek Schmidt
Tanz Federica Aventaggiato, Lionel Ah-Sou, Claudio Costantino, Clémentine Dumas, Loar Labat Berrio, Katharina Ludwig
Licht- und Kostümdesign Nunzio Impellizzeri
Kostümproduktion Theama for Dance, Probenleitung Irene Andreetto, Outside Eye Silvia Scipilliti, Technische Leitung Viktoras Zemeckas, Produktionsmanagement Manfred Dachs
SCH.NEE – Nunzio Impellizzeri
Kulturmarkt, Zurich, October 29, 2022
Dance: Federica Aventaggiato, Lionel Ah-Sou, Claudio Costantino, Clémentine Dumas, Loar Labat Berrio, Katharina Ludwig
Impressions - Tanznachtisch by TanzLOBBY IG Tanz Zurich
Text: Mary Staub
Dancegoers cluster, forming a loose line in the Kulturmarkt foyer as they await entry to Nunzio Impellizzeri’s 60-minute piece “Sch.nee”. Just six people at a time are allowed into the theater. The rest must slow down and wait. Once inside, a black curtain stops entrants short, causing them to pause once more. A dancer gently draws the fabric aside and shows the audience members across the stage and towards their seats. In crossing, they brush up against several dancers who are stretching, posing and warming up on the stage and in between audience seats. The audience watches further groups of six dancegoers enter the theater, cross the stage and find their seats. And another six. And six more. The audience observes as six dancers continue to make shapes, reach and loosen up throughout the theater. At times one of them invites a audience member to partner in a simple stretch or movement sequence. The separation between dancer and dancegoer is thus reduced, a bridge established. Meanwhile, the transition from outside world to performance world expands—an extended in-between—until all audience members are seated and one world flows into the other.
In “Sch.nee” Italian-born, Zurich-based Nunzio Impellizzeri explores the roles of sound and silence in our increasingly hyper-stimulated society. What is silence in this context? (How) does silence exist? (How) can we deal with silence? What role does silence play in a society where they who scream loudest are those who get farthest ahead? Once sound is gone, what fills that space?
As the lights come up, six dancers are sitting in a line, facing the audience from the stage, holding their gaze intently. As the dancers slowly stand and begin moving, their eye contact initially remains strong—the bridge between dancer and dancegoer thus reinforced. The dancers wear vibrant two-toned basics: shorts, t-shirts, hot pants, a unitard, a leotard—glowing red with brilliant turquoise; hot pink with radiant lime; bright orange and strong yellow. In these fiery two-tones, the dancers reach, pose and cut precise, moving shapes into space, sometimes alone, sometimes in pairs, sometimes in nuggets of uniformity, moving as a sextet through the room, first slowly then faster. They dip and turn in deep arabesques. In barrel turns they eat up space with captivating precision. They lunge, lunge further, and even further, until they can lunge no further and are drawn across the room. An electronic percussive soundscape supports the scenes. From a soft rumble it builds into a mildly pulsating, increasingly rhythmic, throbbing electronic sound that penetrates the dancers. Crescendoing. They beat, stomp, drill, jump. They pulse the beat of the music; the beat pulses them, driving their bodies, clashing their bodies against one another. Everything intensifies—sound, speed, rhythm, colors. Many in the audience pick up the beat, mirroring the dancers’ pulse, the music’s thrum, the rhythm of the bodies onstage.
And suddenly there is silence. And suddenly there is stillness.
And in this silence, we hear the bodies breathe.
And in this stillness, we see and feel more clearly how the bodies moved before.
And when the lights go out, and there is darkness, in this absence of light and sound, it becomes apparent how loudly those colors screamed, how intensely the music throbbed, how precisely, sharply, astutely those bodies carved shapes, sculptures and movement into space. In this silence the noise is visceral.
In “Sch.nee”, such extended silent blackouts form porous boundaries between individual sections, each one creating a distinct world that trickles into this stillness. In this calm in-between space, the previously created world is more deeply heard, seen and felt, magnified by the absence and inviting audiences to reflect.
One section of “Sch.nee” seems an underwater world. A creature slithers across the floor, like a sea slug with a brightly lit eye fixed atop its head, creating a surreal image and magical atmosphere. (A dancer wearing an old-school diving mask, lit up from within.) In this world, the dancers’ movements are smoothed, the sound is softened, and the colors are less loud, as though diluted by water. They wear mostly nude-colored netted costumes, undulate lightly and gently move through this world of soft contours. At times, they gape fishlike, as though breathing bubbles or producing soundless speech.
Throughout “Sch.nee”, the dancers pause briefly now and then, gazing fixedly into the audience, inviting the audience further into their world. They raise their fingers to delicately frame the corners of their nose and mouth. ‘Sshhhhh’. The title “Sch.nee” comprises the silencing sound of ‘sshhhh’ and the silent element of ‘snow’, or ‘Schnee’ in German, and the negation ‘no’, or ‘nee’ in German. (Perhaps ‘sshhhhhs.no’ in English would be equivalent.)
In a final section, the dancers appear in mostly white, the earlier colors whited out (by snow?). Their movement is weighted yet sinuous, as though moving through a snowscape. The soundscape is muted, meditative, mesmerizing. Snow absorbs sound. Each dancer suddenly holds a bulging white ball (a snowball?) in their mouth—an unnerving image of being gagged into silence. Yet, the dancers’ gaze remains soft, gentle, at peace with this sound of silence. Almost imperceptibly, the dancers merge into group formations, creating brief living sculptures, before melting away to mould into a new formation elsewhere. One dancer is lifted and carried and held and softly swayed and tumbled in crucifix pose. The sculptures develop and dissolve fluidly with a meditative gracefulness.
After “Sch.nee”, during Tanznachtisch (an audience talk-back led by members of TanzLOBBY), a small group of audience members shared their impressions from the piece as Nunzio Impellizzeri and manager Manfred Dachs initially listened and later answered questions. What resonated strongly with the audience were the contrasting qualities of sound, movement, costumes, lighting and overall worlds that were created in different sections. These contrasting worlds formed a unity, just as the opposites of sound and silence are part of a whole. Also, innumerable sculptural images remained vivid—white balls protruding from mouths; gaping fish-like mouths; underwater creatures; an eerie light; vibrant colors; the dancers’ gaze; the silencing ‘sssshhhhhh’. The audience received these moving images openly, as gifts brought to life by the dancers through “Sch.nee”.
Similarly, the initial transition from outside world to performance world, slowed down and with a connection to the dancers, was warmly received. Several audience members indicated being more involved with the individual dancers throughout the piece as a result, viscerally following one dancer or another at different times. At the same time, they found themselves yearning to follow the whole—the melting together of sound, light, colors, collective dancers into distinct world. The experiences, images and worlds brought to life so viscerally by these dancers throughout the 60 minutes of “Sch.nee” were experienced as gifts to be taken along and savored at home.
A gift that keeps giving in the silence of our homes.
SCH.NEE
Artistic direction, conception, choreography Nunzio Impellizzeri
Original music Tarek Schmidt
Dance Federica Aventaggiato, Lionel Ah-Sou, Claudio Costantino, Clémentine Dumas, Loar Labat Berrio, Katharina Ludwig
Light and costume design Nunzio Impellizzeri
Costumes Theama for Dance; Rehearsal direction Irene Andreetto; Outside Eye Silvia Scipilliti; Technical director Viktoras Zemeckas; Production management Manfred Dachs